Marianne Stoll – Was ist Wohnen?

Dorothée Bauerle-Willert
Text Katalog „Traumhäuser“, 2011

In seinem Denkbild Asyl für Obdachlose behauptet Theodor W. Adorno ziemlich apodiktisch„Man kann heute eigentlich überhaupt nicht mehr wohnen“ und weiter: „Das Haus istvergangen…es gehört zur Moral, nicht selber bei sich zu Hause zu sein.“ Dennoch wohnen wir,auch wenn Vertreibungen, weltweite Wanderbewegungen und Migration Adornos Diktum neueBrisanz verleihen.

Wohnen hat seine Wortwurzeln im altsächsischen wuon und im altenglischen oder gotischenwunian, die beide – wie bauen – ursprünglich „bleiben“, „sich aufhalten“ bedeuteten. Danebennennt die Etymologie das altisländische una: „Behagen empfinden“, „zufrieden sein“, „bleiben“;und das altenglische/gotische wunian fächert sich noch auf in „zufrieden sein, zum Friedengebracht, in ihm bleiben. Und „Frieden“ schließlich – eng verwandt mit frei – meint derEtymologie zufolge–„Schonung“, „Freundschaft“ oder „bewahrt vor Schaden und Bedrohung,geschont“. Im Nachhorchen der wörtlichen Bedeutungen ergibt sich also ein engerZusammenhang von Wohnen, Schonen und – auf den sozialen Kontext bezogen -Gastfreundschaft. Der – für uns – so selbstverständliche Begriff entpuppt sich als komplexesIneinander von Frieden und Freiheit, von Zugehörigkeit und der Möglichkeit, dieseZugehörigkeit im Bauen, in der Verwandlung eines beliebigen Raums zu einem Ort erst zuformen. Denn Raum gibt es nie a priori. Er entsteht in einem Prozess der An- und Zueignung, dereinen gelebten Raum erst erzeugt, einen Raum, der kein leerer Behälter ist, sondern eine Stätte,wo erlernter, erworbener Sinn sich ablagert, eine Sphäre, in der wir uns auskennen, ein Ort deraffektiven Verankerung. Bei Thomas von Aquin heißt es, die Engel seien nicht wie körperhafteWesen im Raum, sondern sie erzeugten aus sich den Raum, den sie mit ihrem Wesen ausleuchtenund beleben. Und im 20. Jahrhundert schrieb Merleau-Ponty einen Satz, von dem alle Reden überdas sinnliche In-der-Welt-Sein der Menschen auszugehen hätten: „ Der (menschliche) Körper istnicht im Raum, er wohnt ihm ein.“ Wohnen heißt nicht, sich zufällig irgendwo im Raum zubefinden.Wohnen ist die Gründung eines Raums im Widerspiel von Einlassen und Einrichten,von Formung und geformt werden.

Zum Wohnen gehört das Bauen, und Bauen wiederum betont das gestaltende Potential als eineForm des notwendigen schöpferischen Energieumtausches zwischen Menschen, Materialien undOrten. Unentwegt wird Lebensraum gebildet. und diese unaufhörliche Erschaffung ist Form desDaseins. Der Mensch, mit Heidegger, ist derjenige, der das Wohnen immer neu lernen muss,vielleicht auch, weil sich in ihm der Wunsch nach Freiheit und nach Geborgenheit kreuzt, derZug ins Offene und die Sehnsucht nach Verwurzelung. Immer sind wir unterwegs zur Heimat.Und immer wird diese Heimat, die „dritte Haut“ des Menschen wird neu erfunden, so wie derMensch selbst sich erfindet, formt, gestaltet. Die erste Haut ist Teil unseres Körpers, in derzweiten, der textilen Umhüllung kleidet das Sein sich ein – der Mensch weitet sich in seineUmwelt – und in der dritten, in der Form von Wänden, Decken und Böden siedelt er sich in denRaum. Und auch diese Haut ist gleichsam Teil unseres Körpers und unseres Ichs, zugleich aberTeil unserer Außenwelt: Ausdruck und Hülle im direkten wie im übertragenen Sinn. Raum undMobiliar spricht den Menschen aus und an, sind wie ein maßgeschneidertes Kleid, erschaffenAtmosphäre, werden zu einem Raum gewordenen Teil des Menschen selbst. Immer geht esdabei um das komplexe Verhältnis von Innen und Außen, von Sein und Haben – und um diePorosität von beidem.

Häuser und Kleidungen gehören zur Kultur wie sie Zeugnisse der Kulturgeschichte sind, dienendabei aber immer auch der Täuschung und Vortäuschung – Spiegel und Vorspiegelungen – undvielleicht sind die menschlichen Symbole in ihrem Ausdrucksverlangen, in ihremAusdrucksvermögen insgesamt eine Art Kleidung, eine Art Behausung, die saisonalausgewechselt werden kann. Wohnen ist so auch ein Theater auf eigener Bühne, dabei könnendie Besucher/Betrachter auch noch selbst ausgesucht werden.

In Objekten und Zeichnungen, in Hauskleidern und Kleiderbauten untersucht Marianne Stollspielerisch, ernst, luzide und immer wieder überraschend die vielschichtigen Horizonte desWohnens, des Hauses, des Behaustseins – und den immer drohenden Verlust von Schutz und Ort.In ihren Anordnungen erinnert sie an die alte Frage, wie das Weltenhaus zu bewohnen sei, wiewir in dieser Welt, die uns doch nie schlüsselfertig übergeben wurde, eingerichtet sind. In einerReihe von Zeichnungen und Objekten, Figuren des anschaulichen Denkens, wird dasunauflösliche Ineinander der drei (oder mehr) Häute des Menschen abgetastet, bezeichnet,verzeichnet, immer im Fluss. Körper verwandeln sich in Gebäude und vice versa, so als ob diePersonage in Marianne Stolls Bilderwelten ihre eigenen Wohnformen, utopische Architekturenaus sich heraus entwickelt, spinnt, und sich dadurch immer wieder neu verwebt: Ein Netzwerk, indem Innen und Außen sich berühren oder ineinander kippen.

In den luftigen Zeichnungen verweben sich die Gegensätze und die Kategorien: Architektur undNatur, der Leib und seine Hülle stehen in stetem Wechselverhältnis, werden sichtbar undeinsichtig als Prozesse des Austausches, der Metamorphose.

Dem doch immer rätselhaften Verhältnis des Ichs zu seiner Welt, des Menschen zum Raumkorrespondieren die Zeichnungen: Es sind Rätselbilder, die souverän mit Vertrautem undFremdem, mit Kulturgeschichte, Clichés und Erfindung jonglieren.

Da sitzt zum Beispiel eine Susanna sehr selbstbewusst mit gespreizten Beinen in ihrem Bade …àpropos Badewanne; kehrt da nicht der Mensch ein kleines bisschen zu seinem Ursprung zurück?Susanna wird nun nicht, wie in der biblischen Geschichte, von alten Lüstlingen ertappt,stattdessen lässt sie Bauklötzchen, Gebäude, Körperformen um sich herumwirbeln, als ob siejust ihrem Kopf und dem nackten Körper entsprängen.

Immer gibt es in den Zeichnungen diese seltsamen Arrangements von Dingen und Menschen -und den vielfachen Übergangsstufen zwischen beiden, wenn der Schutzraum Frauenhaus in derroten Ölmalerei zu einer eleganten und doch schmerzlichen Robe umformuliert wird.Es sind Anordnungen, die gleichermaßen auf die Fiktion von Welt wie auf ihre Realität zielen.Das Reale, die Dinge sind da, aber in der Mischung von Isolierung und Kombinatorik entstehenphantastische Sequenzen. In loser Koppelung treten die Gegenstände, die Figuren nach und nachmiteinander in seltsame Beziehungen und erzählen immer neue Geschichten des unterwegs zumHause sein.

In wagemutigen Perspektivwechseln kommen Kleines und Grosses, Festes und Fragiles,Gefährliches und Harmloses im zeichnerischen Akt zusammen, die Figuren schweben, tanzen imRaum des Blattes, der so gleichsam zu einem mobilen, beweglichen Ort wird. Fern und nahzugleich kontaminieren sich die Formen und Elemente, die Körper und die Hüllen. Die Welt istein Ensemble von Fragmenten und Bausteinen, von Realität und Imagination, ein Gespinst, dasein parzelliertes Nebeneinander auflöst – die zeichnerischen Formen befrieden und nähren sichgegenseitig, in seltsamer Analogie zur Schaffung eines Lebens-Raums. Wie im Rausch erprobendie Wesen, die die Zeichnungen von Marianne Stoll bewohnen, die unendlichen Möglichkeitendes Bauens und Bildens, erproben die Freiheit des Erfindens, des Loslassen, des Festhaltens, desVerwandelns. Immer im und als Balanceakt scheinbar entgegen gesetzter Wünsche undHoffnungen, so wie wir zugleich das Fremde, Neue ersehnen und doch am Vertrauten hängen.Die leichten Zeichnungen, die skurrilen Bilderfindungen, die Übergangsfiguren, die dieverschiedenen Häute des Menschen ins Bild setzen, umkreiseln solcherart die Osmose zwischenIntimität und Öffentlichkeit, zwischen Öffnung und Schließung, und diese zentrifugalen Impulseprägen und facettieren wohl auch das Wohnen zwischen Abgrenzung und Einladung. DieZeichnungen sind wie Bozzetti für einen freieren Umgang mit der Wohn-Konvention. Dieräumliche Begrenzung, die räumliche Ordnung auf die schon das ‚disegno‘ zielt, macht etwasgreifbar, das sich der Sichtbarkeit entzieht. Und wie der Grundriss, der Plan sich in dem Baurealisiert, so können die Zeichnungen sich in den Raum, im Relief, im Objekt, inZwischenformen und Zwischenräumen erstrecken. Auch hier changieren die Dinge, die sich jeihre Materialien suchen zwischen Ironie und tieferer Bedeutung, beispielsweise wenn das‚Itsybitsy-Haus’ ein gehäkelter Strandbikini (mit Stufen im Höschen) wird – Konfektion und diekonfektionierten Sehnsüchte nach anderswo rücken hier ganz nahe aneinander. Das ‚Bauhaus’ istein schnittiges Ellipsoid und könnte auch ein Flugkörper sein. Und ein Gebilde, das ganznonchalant einen Palast zitiert, schaut einen fast drohend an: Aus gutem Hause zu sein, ist nichtnur Privileg, sondern auch Ballast.

Wie fragil unsere Kulturleistungen sind, wie brüchig die Differenz von Ort und Ortlosigkeit, vonHeimat und Heimatlosigkeit scheint in den Objekten zu Fukushima auf. Die Pappbündel, dieBruchstücke sind auch gescheiterte Hoffnungen – und nicht nur metaphorisch lässt sich dieGrenze zwischen Kosmos und Chaos, zwischen Heimat und Fremde wohl nicht so einfachkartographieren oder vermessen. Vielleicht ist jedes Bild wesentlich Passage und doch seineigenes Zentrum, so wie die nomadischen Völker wandern: geschützt und frei, innen und draußenzugleich, in der Mitte der Welt, die sie trägt.

Und sind nicht auch in der Kunst die „Anderswohner“ (Peter Sloterdijk) zu Hause? Ihr Wohnenbedeutet immer auch Mitarbeit an den mannigfachen Formen, am Formenreichtum der Natur, derKultur, am Fundus der Welt. Marianne Stolls Entwürfe sind solche Häuser der Anderswohner,sie sind voll von fremden und befremdlichen Gästen: Aussichtspunkte und ein magische Orte.Die Hausherrin bewegt sich in ihrem selbst geschaffenen Reich wie in einem Palast, wie in einerHütte. Und wir als Betrachter dürfen teilhaben an der reichen Konversation, die unter ihrenGebilden herrscht.

 

 

BEHAUSUNGEN

Marianne Stoll

Das umfangreiche Projekt mit dem thematischen Überbegriff „Behausungen“ behandelt die existentielle Frage der Suche nach einer Verortung, sowohl als „Dach über dem Kopf“, der Grundlage für die Möglichkeit einer kulturellen Entwicklung, als auch emotional, intellektuell: in welcher Sicht zur Welt fühle ich mich „zu Hause“ oder könnte ich mich dem nähern.

Es entstehen vielfältige Arbeiten, Zeichnungen, Collagen, Objekte, meist in Serien.

Alle Arbeiten haben verschiedene Sichtweisen, Irritationen, Ausbrechen aus bekannten „Behausungsverhältnissen“.

Die Serie „Grundrisse“ nimmt Bezüge auf zu architektonischen Elementen, setzt sich mit der Normierung von Wohnungen moderner Gesellschaften auseinander; das bewusste Umgehen mit einer Behausung und ihrer Gestaltung stellt die konventionellen Normen in Frage und sucht nach individuellen Kriterien. In den Collagen werden Grundrisse aufgebrochen, ihrer traditionellen Funktion enthoben. Sie werden mit freien Zeichnungen, Fotografien, Magazinblättern, Zitaten aus Texten über das Thema Wohnen kombiniert.

In der Serie „Heimat“ überarbeite ich Fotografien von Ansichten geliebter Orte in meiner Heimat, Darmstadt. Fremdartige Portraits blicken melancholisch ins Ungewisse. Für mich stellt sich die Frage: ist die Heimat ein Zufluchtsort oder eine Illusion? Der samtig matte Überzug aus Wachs gibt den Arbeiten etwas Indirektes; auch eine „Konservierung“ im übertragenen Sinn ist beabsichtigt.

Die Serie „Portraits“ hat sich aus der Serie „Heimat“ entwickelt. Gesichter werden aus dem Zusammenhang gelöst und eine Spannung zwischen realer menschlicher Physiognomie und ihrer Irritation aufgebaut. Das Behausungsthema bekommt hier noch eine abstraktere Variante: Der Kopf als Behausung des menschlichen Geistes, als Ausgangspunkt unseres Bewusstseins, unserer Gefühle, Erfahrungen, unseres Standpunkts zur Welt. Das Gehirn ist die Schaltzentrale für alles, was den Menschen bewegt.

In den Serien „Gartenhäuser“, „Nester“, „Gemächer“ reduziert sich Gegenständliches auf wenige figürliche Fragmente, die in die Zeichnungen/Collagen eingearbeitet sind. Florale Elemente, luftig in den Gartenhäusern, verdichtet in den Nestern, schaffen poetische, heitere Behausungs-Anmutungen. Die Gemächer folgen dem Bedürfnis nach einem Rückzugsort, intim, strenger, die Farben Braun und Schwarz und klare Formen sind dominant in den Collagen.